Die StVO-"Radfahrer"-Novelle in der Praxis

Nach dem Manuskript eines Vortrags am 2000-04-08 auf der Landesmitgliederversammlung des VCD Bayern in Augsburg

 

Inhalt

 

Änderungen und Verbesserungen durch die "Radfahrernovelle"

Die "Radfahrernovelle" brachte in der Praxis kaum eine Änderung in bei der Förderung des Radverkehrs und der zugehörigen Lobbyarbeit bzw. dem Bau von Radverkehrsanlagen und deren Sicherheit. Zu der Zeit als die "Radfahrernovelle" verabschiedet wurde begannen sich gerade die neu überarbeiteten "Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (ERA 95)" der Forschungsgemeinschaft für Straßen- und Verkehrswesen als "technischer Stand" durchzusetzen. Dagegen stellten sich die Verwaltungsvorschriften der Novelle als einen deutlichen Rückschritt dar, weil sie schwächere Kriterien (z.B. geringere Mindestbreiten, lichte Weite statt befestigte Breite) aufstellen und in vielen Punkten vage und weit auslegbar formuliert sind. Mit der "Radfahrernovelle" kam dagegen die strikte Benutzungspflicht auch linksseitiger (gefährlicher) Radwege. Die erstmalige Fassung von Bedingungen für die Freigabe von Einbahnstraßen in Gegenrichtung und Busspuren, sowie Fahrradstraßen und Angebotsstreifen erscheint nur neu, stellt aber gegenüber der schon vorher lokal gehandhabten Praxis eine Verschärfung dar.

Stand vor Ort

Die Umsetzung der "Radfahrernovelle" erfolgte lokal sehr unterschiedlich, ja nachdem wie sich lokale Behörden und Initiativen (z.B. ADFC, VCD, ...) für den Radverkehr engagieren. Auch von daher brachte die Novelle wenig Änderung.

Das Spektrum der Umsetzung reicht von Unwissen (viele ländliche Gemeinden; teilweise sogar Unwissen darüber, daß man Radwege im Gemeindegebiet hat) über Ignoranz (Wissen um die Änderung, aber "uns geht das nichts an"), angeblicher Umsetzung ("Wir kümmern uns drum"), tatsächlichem Bemühen bis hin zu offensichtlich falscher, auch bewußt falscher Umsetzung ("wildes Schilderaufstellen"), was teilweise auch zugegeben wird. Beispiele für letzteres findet man in Berlin, wo anscheinend das alleinige Kriterium für die Anordnung der Benutzungspflicht nicht die Verwaltungsvorschriften (VwV) waren, sondern ob der Radweg in einer Hauptverkehrsstraße liegt, während in Nebenstraßen die Benutzungspflicht oft entfiel. Oder in Hamburg, das zunächst "flächendeckend" Benutzungspflicht beschilderte und zu schmale Radwege in gemeinsame Fuß- und Radweg umwidmete, aber nach Initiative des lokalen ADFC in einigen Stadtteilen wieder zurücknahm.

Selten jedoch wurden "die Hausaufgaben gemacht". Diese sahen vor, daß in der Zeit zwischen Bekanntgabe der "Radfahrernovelle" (Sommer 1997) und ihrem vollständigen Inkrafttreten am 1998-10-01 sämtliche Radwege einzeln auf Einhaltung der VwV-Kriterien zu überprüfen waren. Anhand dieser Prüfung wäre zu entscheiden, wo eine Benutzungspflicht ausgeschildert werden kann, wo sie nicht ausgeschildert werden darf, wo Radwege ganz aufzugeben sind und wo Nachbesserungen nötig und möglich sind. Für letztere wäre auch anzugeben, in welchem konkreten, näheren Zeitrahmen sie erfolgen sollen.

Inhalt der neuen StVO - Was ist neu?

Die wichtigsten Änderungen
neu in der StVO:
  • Radwege sind benutzungspflichtig genau dann, wenn sie beschildert sind.
  • Damit werden auf einen Schlag alle linksseitigen Radwege benutzungspflichtig.
  • Das Konzept des nicht benutzungspflichtigen "anderen Radwegs kommt hinzu, allerdings nur für rechtsseitige Radwege.
  • Seitenstreifen fallen aus der Benutzungspflicht; sie "dürfen" benutzt werden.
  • Radverkehrsführungen an Kreuzungen ist zu folgen (§ 9); damit besteht erstmals die Wahl zwischen mehreren Varianten.
  • Kinder bis 8 Jahren müssen auf dem Gehweg fahren; neu dabei ist, daß sie das selbst dann tun müssen, wenn ein Radweg vorhanden ist; bis 10 dürfen sie auf dem Gehweg fahren.
  • § 45 Abs. 9
     
    Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen sind nur dort anzuordnen, wo dies aufgrund der besonderen Umstände zwingend geboten ist. Insbesondere Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs dürfen nur angeordnet werden, wenn aufgrund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt. [...]
    ergänzt und betont nochmals das Prinzip des § 39 Abs.&nbps;1. Er ist auch Grundlage bei Einschränkungen des Radverkehrs, wie beispielsweise der Anordnung einer Radwegbenutzungspflicht. Dabei muß die Anordnung zwingend sein und die Gefahr durch sie erheblich vermindert werden (Nachweis ist zu fordern).
  • nicht neu, sondern nur als neu verkauft:
    Freigabe von Einbahnstraßen und Busspuren, Angebotsstreifen ("Schutzstreifen" in der neuen StVO), Fahrradstraßen
neu in den VwV:
  • erstmals ausführliche Kriterien für die Benutzungspflicht von Radwegen, allerdings offen gehalten und lückenhaft; dabei werden auch bestimmte Führungen (linksseitig, Mischverkehr mit Fußgängern) zumindest teilweise als gefährlich anerkannt
  • Kriterien für Radverkehrsführungen
  • Kriterien für die Freigabe von Einbahnstraßen und Busspuren; gegenüber dem vorher unbestimmten Verfahren strenger
  • Kriterien für Fahrradstraßen und Angebotsstreifen

Beispiele für Interpretation und Umsetzung in der Praxis

  1. Was heißt "aus Verkehrssicherheitsgründen erforderlich" als Voraussetzung für die Anordnung der Benutzungspflicht nach VwV?
    Das Spektrum der Interpretation reicht von
    1. pauschaler "Beurteilung", d.h. keine Beurteilung, alle Radwege an "wichtigen" Straßen werden beschildert; wichtig wird dabei häufig nach der Bedeutung der Straße für den Kraftverkehr definiert, obwohl dies gerade kein Kriterium der VwV ist.
    2. Verkehrsstärken und -geschwindigkeiten sowie Schwerverkehrsanteile (Ansatz der FGSV-Broschüre "Hinweise zur Beschilderung von Radverkehrsanlagen nach der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung"),
    3. Einzelfallprüfung jedes Radwegs im Umfeld,
    4. Nachweis der Verkehrssicherheitserhöhung bzw. des Bedarfs aufgrund einer erheblichen Gefahrenlage (beachte § 45 Abs. 9 StVO) für jeden Radweg, z.B. durch eine Verkehrsuntersuchung.
  2. Was ist "baulich angelegt und nach außen erkennbar für die Benutzungspflicht durch den Radverkehr bestimmt"? Oder: Woran erkannt man einen "anderen Radweg"?
    1. Beschilderung? Es sind keine Zeichen vorgesehen. Beschilderung bedeutet Benutzungspflicht.
    2. Markierungen? Welche? Es sind auch keine Markierungen vorgesehen. Wie viele (Wiederholungsrate)?
    3. Bauliche Trennung? Sie alleine genügt nicht, weil der Weg dann auch ein Gehweg sein könnte.
    Aufgrund dieser Unsicherheiten geht die von mir beobachtete Praxis dahin, kaum "andere Radwege" auszuweisen, sondern Gehwege (Zeichen 239) mit "Radfahrer frei". Das hat auch den "Vorteil", daß es bei linksseitigen Wegen möglich ist.
  3. Einbahnstraßen
    Durch die Verschärfung der vorher nicht fest formulierten, aber rechtlich existierenden Möglichkeit zur Freigabe von Einbahnstraßen in Gegenrichtung (Kriterien jetzt: Tempo 30, Breitenvorgabe geradliniger Verlauf, Befristung als Versuch, Pflicht zu begleitender Unfalluntersuchung) kam nach einer kleinen Welle einiger zusätzlicher Freigaben und lokal einigen Sperrungen der Stillstand. Neue Freigaben sind kaum durchsetzbar.
  4. Fahrradstraßen
    Sie werden nach wie vor nur dort umgesetzt, wo diese Idee schon vorher bestanden hat und wo sie kaum jemandem wehtun. Wo Widerstände von Seiten der Autolobby oder Anwohnern bestehen werden selbst wichtige Verbindungen des Radverkehrs nicht zu Fahrradstraßen (Beispiel Passau, Innbrückgasse mit mehreren tausend Radfahrern pro Tag, dagegen einigen hundert Pkw, die zu gut 2/3 diese Straße auch nicht verbotenerweise benutzen.)
  5. Mindestmaße
    Anstatt der gegenüber den ERA 95 verminderten, schon an sich zu geringen und häufig sogar gefährlichen Richtbreiten (gefährlich, weil die notwendigen Sicherheitsabstände zu parkenden und zu überholenden Autos, Lkw und Bussen sowie Fußgängern nicht einzuhalten sind) werden selbst neue Radwege in den noch geringeren Mindestbreiten der VwV gebaut. Von diesen Maßen zieht man oft auch noch die Sicherheitsräume ab.
    Insbesondere bei Angebotsstreifen und Fahrradspuren führt das zusammen mit dem "Spurdenken" vieler Fahrzeugführer zu extrem geringen Seitenabständen beim Überholen. Damit Fahrradspuren zumindest in etwa gleich sicher sind, wie Mischverkehr auf der Fahrbahn, müssen sie eine Mindestbreite von 1,80 Metern aufweisen. Gebaut werden jedoch die vorgeschriebenen 1,50 Meter, bei Angebotsstreifen gar nur 1,25 Meter, abzüglich der Breite von Trennlinien und anderen Sicherheitsräumen.
    Ist das Radverkehrsförderung? Kann man eine Verkehrsart fördern, indem man den ihr zur Verfügung gestellten Raum einengt?
  6. Oftmals geschieht jedoch gar nichts.

Handlungsmöglichkeiten vor Ort

  1. Vorschläge und Probleme von Betroffenen sammeln, koordinieren und als Gruppe weitergeben
  2. Eigene Überprüfung von Radverkehrsanlagen
    Problem: Das ist viel Arbeit, nicht nur in Städten, sondern besonders auch in Flächenlandkreisen, wo zumeist am wenigsten geschehen ist. Dort ist alternativ auch an Anschreiben der zuständigen Gemeinden zu denken.
  3. (Übliche) Lobbyarbeit, Eingaben, Kontaktaufnahme zu Behördenvertretern. Wichtig: persönlichen Kontakt herstellen.
  4. Formale Widersprüche gegen die Radwegbenutzungspflicht (und andere Anordnungen im Straßenverkehr) als eine der letzten Möglichkeiten. Allerdings: Dieser Zug ist (fast) abgefahren, weil die Frist dazu inzwischen verstrichen ist.
    Jedes Verkehrszeichen, jede Markierung, jede Lichtzeichenanlage, so auch die Benutzungspflicht von Radwegen, stellt eine Verwaltungsanordnung der Straßenverkehrsbehörde (StVB) in Allgemeinverfügung dar. Gegen diese Anordnung kann man Widerspruch einlegen (schriftlich oder zur Niederschrift) bei der StVB. Beispiele siehe u.a. http://bernd.sluka.de/Radfahren/Novelle. Da Verkehrszeichen nicht mit angehefteter Rechtsbehelfsbelehrung aufgestellt werden, gilt eine verlängerte Frist von einem Jahr, innerhalb der solch ein Widerspruch zulässig ist. Sofern die StVB nicht von sich auch dem Widerspruch abhilft (ihm nachgibt), entscheidet die vorgesetzte Behörde darüber. Wird der Widerspruch abschlägig beschieden (Beachte: Formaler Bescheid mit Rechtsbehelfsbelehrung), kann eine Gebühr erhoben werden. Sie beträgt üblicherweise ca. 50 DM zuzüglich Zustellgebühr, zusammen etwas mehr als 60 DM. Gegen einen abgelehnten Widerspruch ist Klage vor dem Verwaltungsgericht möglich. Dabei entstehen nochmals einige hundert Mark Gerichtsgebühren zuzüglich der Kosten eines eigenen Anwalts, den man sich nimmt (in erster Instanz noch nicht vorgeschrieben). Diese Kosten (und die Gebühr für den Widerspruchsbescheid) werden erstattet, wenn man die Klage gewinnt. Der VCD Bayern hat eine Kostendeckung oder -unterstützung für Vorgehen in beispielhafen Fällen zugesagt.
    1. Problem: Nur Privatpersonen können diesen Weg gehen, keine Verbände.
    2. Problem: Das Jahr seit Inkrafttreten der StVO-Novelle ist am 1999-10-01 abgelaufen.
    Der Weg ist jedoch dann weiterhin offen, wenn man jemanden findet, der erstmalig vor weniger als einem Jahr von der Anordnung betroffen war (z.B. zugezogen) und bereit ist, das Vorgehen zutragen.
  5. Eventuell kann nach Unfällen Anzeige der Verantwortlichen wegen § 315b StGB (Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr) erwogen werden. Oder man hält die Betroffenen dazu an, zivilrechtliche Ansprüche wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht geltend zu machen.
  6. Pressearbeit. Aber dieses komplexe Thema (auf der einen Seite die Benutzungspflicht für die betroffenen Radfahrer, auf der anderen Kriterien für die Verwaltung für die Anordnung dieser Benutzungspflicht) ist schwer zu vermitteln.

Warnungen

Zum Abschluß möchte ich vor einigen Fehlentwicklungen warnen.

Alternativen der Fahrradförderung

sind u.a.

Wir brauchen keine Radwege, sondern fahrradgeeignete Straßen.


2000-06-02 (© Bernd Sluka), letzte Änderung 2000-11-09
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